Der Reiz der Unfreiheit besteht in der Abgabe der Verantwortung – Ein Kommentar

Die Reaktionen auf den letzten Beitrag, “Reiz der Unfreiheit”, in dem ich auf einige Problem hingewiesen habe, die sich mit der in der “Männerbewegung” vorherrschenden Freude über das Urteil des Kölner Landrichters Beenken verbinden, haben mich dazu veranlasst, noch einen post nachzulegen, in dem ich auf die Prämissen aufmerksam machen will, auf denen die zum Teil hektische, fast schon hysterische Behandlung eines Themas, dessen Bedeutung für die Männerbewegung kaum geringer sein könnte, basiert.

Die Liste der Prämissen umfasst die folgenden Behauptungen:

  1. Deutschland ist voller religiös eifernder Eltern, die ihre Kinder misshandeln wollen.
  2. Die (vermeintlichen) religiösen Eiferer finden sich (angeblich) vornehmlich unter Juden und Muslimen.
  3. Die Beschneidung männlicher Kinder stellt eine Körperverletzung dar.
  4. Die Selbstbestimmungsrechte von Kindern sind sakrosankt.
  5. Die Interessen zum Schutz der misshandelten Kinder sind rein und bedürfen keinerlei Relation zu anderen Interessen.

Deutschland ist voller religiös eifernder Eltern, die ihre Kinder misshandeln wollen

Diese Prämisse ist notwendig, denn ansonsten müsste man zugestehen, dass Eltern, auch religiöse Eltern, das Wohl ihres Kindes im Sinne haben und offensichtlich denken, es sei dem Wohl ihres männlichen Kindes förderlich, beschnitten zu werden. Wird zugestanden, dass Eltern, auch religiöse Eltern, das Wohl ihres männlichen Kindes im Auge haben, dann folgt daraus, dass man die entsprechenden Eltern nicht mehr in Bausch und Bogen verdammen kann, und es folgt daraus, dass man zugestehen müsste, die entsprechenden Eltern denken, eine Beschneidung sei zum Wohle ihres männlichen Kindes. Was nun? Nun stehen Eltern, die das Wohl ihres Kindes im Auge haben, Fremden gegenüber, die von sich behaupten, das Wohl ihnen fremder Kinder im Auge zu haben. Die ganze Diskussion wird zu einer Diskussion um Herrschaft. Welche der beiden Gruppen kann Herrschaft über Kinder ausüben? Wer muss zurückstehen? Was also tun? Überzeugen mit Worten? Dazu braucht man gute Argumente. Argumente, die z.B. zeigen, dass die Beschneidung von Jungen nicht nur in Ausnahmefällen negative Konsequenzen und nicht nur nicht prüfbare Konsequenzen wie z.B. einen nicht bezifferbaren Verlust sexueller Erlebnisfähigkeit nach sich zieht. Seltsamerweise ist dies nicht der Weg, den die meisten hektisch nach einem Verbot der Beschneidung Rufenden gehen wollen. Sie wollen die Staatsmacht auf ihrer Seite. Sie wollen die Gegenseite dazu zwingen, die Beschneidung zu lassen. Das führt zur Frage, wer ist denn die Gegenseite?

Die (vermeintlichen) religiösen Eiferer finden sich (angeblich) vornehmlich unter Juden und Muslime.

The usual suspects. Die Sozialpsychologie ist voller Studien über In- und Outgroups. Sie alle eint die Aussage, dass Outgroups dazu dienen, den Zusammenhalt der Ingroup zu stärken. Entsprechend muss ich mich an dieser Stelle korrigieren: Die Diskussion um die Vorhaut von Jungen, ist das Fanal, um das sich manche Männerrechtler sammeln. Es ist zwar beschämend armselig, aber es ist so, und es zeigt, dass die “Männerbewegung” über keine positive Definition der eigenen Sache verfügt. Statt dessen setzt sie sich auf jeden Karren der mit “Geschlecht” beschrieben ist und macht sich zum Vasallen eines Staates, der mit seinen Regelungen bereits jetzt fast jeden Bereich des gesellschaftlichen Lebens durchsetzt. Eine Freiheitsbewegung zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Freiheit nicht nur für ihre Mitglieder fordert und einklagt. Eine Männerbewegung, die sich für die Beschneidung von Freiheiten anderer einsetzt, ist entsprechend keine Freiheitsbewegung, sie ist eine Hilfstruppe im Dienste des Staates. Dass die Hilfstruppe sich in ihrem Ansinnen, das Leben anderer zu regeln, dabei ausgerechnet gegen Juden und Muslime wendet und dass die Hilfstruppe sich selbst als “linke Männerrechtsbewegung” beschreibt, ist eine Ironie der Geschichte und weist darauf hin, dass die Zuschreibung von Ideologieinhalten entlang des Kontinuums von rechts nach links schon lange jede inhaltliche Bedeutung verloren hat.

Die Beschneidung männlicher Kinder stellt eine Körperverletzung dar.

Wenn die Beschneidung männlicher Kinder eine Körperverletzung darstellt, dann stellt sich die Frage danach, wie andere post- und prä-natale Eingriffe zu qualifizieren sind: Was ist mit den Eingriffen zur Herstellung eines eindeutigen Geschlechts bei entsprechenden Fragezeichen? Was ist mit Abtreibung? Will die Männerbewegung wirklich dieses Fass wieder öffnen und darüber diskutieren, ob Abtreibung den Tatbestand des Mordes erfüllt? Und, wie ich bereits im letzten Beitrag geschrieben habe, was ist mit den vielfältigen Formen der Körperverletzung, die durch eine falsche Ernährung, durch mangelnde Bewegung, durch Vernachlässigung geschaffen werden? Soll hier auch der Staat regelnd eingreifen oder ist eine entsprechende Regulation nicht zielführend, weil sie sich nicht nur gegen Juden und Muslime richten würde?

Die Selbstbestimmungsrechte von Kindern ist sakrosankt.

Monoton und regelmäßig kommt in der Diskussion der Verweis auf das Selbstbestimmungsrecht der Kinder. Doch selbst das Kölner Urteil stellt fest, dass Kinder z.B. im Alter von vier Jahren ihr Selbstbestimmungsrecht nicht wahrnehmen können, was die Frage aufwirft, ob Kinder dieses Recht überhaupt haben können. In jedem Fall stellt sich die Frage, wer für Kinder deren Recht auf Selbstbestimmung wahrnimmt. Früher, als die Inflationierung der Sprache mit Rechten aller Art noch nicht das Ausmaß angenommen hatte, das sie heute angenommen hat, war dies keine Frage der Selbstbestimmung, es war eine Frage der Erziehung, und es waren Eltern, die diese Frage zu beantworten hatten. Heute, da an allen Ecken der Gesellschaft Gruppen voller wohlmeinender Menschen auftauchen, die in das Leben anderer intervenieren wollen, ist die Erziehungshoheit der Eltern durch Rechte eingeschränkt, die dem Sozialamt, dem Scheidungsrichter, dem Jugendamt, dem Schulpyschologen und vielen anderen staatlichen Erfüllungsgehilfen zugewiesen wurden. Eltern sind diejenigen, die die verbleibenden Surrogatrechte ausfüllen sollen, solange sie ihr Staat die entsprechenden Rechte noch wahrnehmen lässt. Konsequenter Weise ist es auch der Staat, der nunmehr die Selbstbestimmung von Jungen über ihre Vorhaut in die Hand nimmt, und abermals positive Rechte vergibt und seine Vasallen mit der Überwachung ordnungsgemäßer Ausführung betraut. Die Männerbewegung macht sich somit mitschuldig daran, dass der derzeitige Staatsfeminismus das bürgerliche Leben nach seiner Fasson gestaltet, reguliert und einschränkt. Die Männerbewegung begibt sich entsprechend jeglicher Rechte, die staatlichen Eingriffe z.B. in das Sorgerecht, in den Geldbeutel von Scheidungsmännern über die Düsseldorfer Tabelle und in die schulische Erziehung von Jungen in Frage zu stellen. Man kann nicht auf der einen Seite dem “guten” Staat die Regelung der “schlimmen” Beschneidung anvertrauen und auf der anderen Seite seine Eingriffe in Bereichen, die einem nicht gefallen, abwehren. Es gibt hier nur ein entweder oder: Entweder man wehrt sich gegen staatliche Eingriffe oder nicht.

Die Interessen zum Schutz der misshandelten Kinder sind rein und bedürfen keinerlei Relation zu anderen Interessen.

Was mich am meisten schockiert hat, ist die Eindimenionalität vieler Kommentare. Die entsprechenden Kommentatoren können sich offensichtlich nicht vorstellen, dass Rechtsetzung eine Abwägung von Interessen darstellt. Das Recht selbst ist Ergebnis einer Interessesetzung, einer, die nicht alle teilen, wie die Existenz von Kriminalität zeigt. Entsprechend stellt sich nicht nur die Frage, welche Interessen bei der Setzung eines Straftatbestandes “Beschneidung” den Ausschlag geben, sondern es stellt sich vor allem die Frage, welche Interessen dabei unter den Tisch fallen. Unter den Tisch fallen z.B. erwachsene Männer, nicht wenige an der Zahl, die sich im späteren Verlauf ihrer Jugend einem recht schmerzhaften Eingriff unterziehen müssen, der sie ihrer Vorhaut entledigt, ein Eingriff, der bei Jungen weniger schmerzhaft und deutlich einfacher durchgeführt werden kann. Unter den Tisch fällt die Realität, in der viele Männer mit zu enger Vorhaut in Deutschland leben. Unter den Tisch fallen Millionen von Männern, die beschnitten sind und in Deutschland leben. Unter den Tisch fallen die Interessen all der Väter, die nach wie vor der Ansicht sind, die Beschneidung ihres Sohnes sei zu dessen Wohl. Sollte eine Männerbewegung sich nicht um diese Männer kümmern, anstatt sich als “Kinderbewegung” zu gerieren?

All die genannten Männer werden einer Hysterie geopfert, deren rationaler Kern kaum  zu entdecken ist  und  der in dem  Bestreben besteht, Verantwortung abzugeben. Genau wie Staatsfeministen, so sind manche Männerrechtler der Ansicht, der Staat könne als Vehikel genutzt werden, um missliebige Lebensentwürfe zu beseitigen. Genau wie Staatsfeministen so können manche Männerrechtler es nicht tolerieren, einen von ihnen missbilligten Lebensentwurf zu sehen. Genau wie Staatsfeministen sehen manche Männerrechtler ihre Aufgabe darin, Kindlein zu schützen, und genau wie Staatsfeministen sind manche Männerrechtler von einem Biologismus besessen, der sie außer Geschlecht keine relevanten Variablen mehr erkennen lässt und der mit einem Naturglauben einhergeht, der, würde er von allen geteilt, uns in der Höhle sitzen und mit Feuersteinen hantieren sehen würde.

Verantwortung in der Welt mancher Männerrechtler wird an den Staat delegiert. Der Staat regelt was gut und richtig ist, und er regelt vor allem alle, die für sich in Anspruch nehmen, noch Verantwortung zu tragen, Eltern z.B., die die Verantwortung dafür übernehmen, dass ihre Söhne beschnitten werden. Solche Eltern sind natürlich nicht zu tolerieren, denn für eine Qualle ist jede Gräte ein Fundamentalist.

Bildnachweis:
Segonku

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