Wohlfahrtsstaat vernichtet sich selbst: G20-Krawall als Konsequenz

Normen sind zentral für Gesellschaften, denn sie regeln das Zusammenleben. Strafrechtliche Normen, die Sicherung von Eigentum, die Straßenverkehrsordnung, Anstandsformen, Reziprozitätserwartungen, sie alle sind die Grundlage von Kooperation und machen Gesellschaft als solche erst möglich.

Ausschreitungen, wie die während des G20 in Hamburg, sind ein Zeichen dafür, dass geteilte gesellschaftliche Normen erodieren. Die Zerstörung von privatem Eigentum, die vorsätzliche Inkaufnahme von ernsthaften Verletzungen bei Polizeibeamten, das Plündern von Geschäften, sie alle sind Indizien für die Erosion gesellschaftlicher Normen, die das entsprechende Verhalten verhindern sollen.

Die Erosion gesellschaftlicher Normen zeigt sich auch darin, dass tatsächlich darüber diskutiert wird, ob es gerechtfertigt sein könnte, einen Polizeibeamten zu verletzen, eine Frage, die sich außerhalb repressiver Systeme wie sie z.B. die Sowjetunion unter Stalin oder das heutige Venezuela darstellen, gar nicht stellt, und in den entsprechenden Systemen ist die Frage erst dann wirklich einfach zu beantworten, wenn das eigene Leben davon abhängt.

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Keiner der Gründe, die eine Diskussion darüber, ob man den Menschen in der Polizeiuniform verletzen darf, rechtfertigen könnten, ist in Deutschland gegeben. Schon gar nicht für Linke, denn: Deutschland ist ein Wohlfahrtsstaat und Linke leben in der Regel von diesem Wohlfahrtsstaat.

Deshalb stellt sich die Frage, wie es zu dieser Erosion gesellschaftlicher Normen kommen konnte. Wieso Personen, die oft genug vom Wohlfahrtsstaat ausgehalten werden, Repräsentanten dieses Wohlfahrtsstaates bekämpfen.

Auf der Suche nach wissenschaftlichen Studien, die ein Licht in das entsprechende Forschungsdunkel werfen können, sind wir auf ein kleines Juwel gestoßen. Veröffentlicht wurde es im Jahre 2008 in der Fachzeitschrift Kyklos. Autor ist Friedrich Heinemann, der zum damaligen Zeitpunkt am Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung der Universität Mannheim beschäftigt war,

Titel: Is the Welfare State Self-Destructive? A Study of Government Benefit Morale.
In Deutsch: Zerstört sich der Wohlfahrtsstaat selbst? Eine Studie zur Moral des Bezugs von öffentlichen Sozialleistungen

Ausgangspunkt für Heinemann sind Bedenken, die Franklin D. Roosevelt gegenüber einem Ausbau des Wohlfahrtsstaat hatte. Mit jeder neuen Transferzahlung, so Roosevelts Bedenken, erhöhe sich die Wahrscheinlichkeit, eines Wohlfahrtsproletariats, der Abhängigkeit von Sozialleistungen und die Wahrscheinlichkeit eines Niedergangs, der Normen des täglichen Zusammenlebens, Normen von Anstand und Moral, die im Hinblick auf die Aufrechterhaltung des Wohlfahrtsstaates von Bedeutung sind.

Keine Sozialleistungen zu beziehen, die einem nicht zustehen, ist eine solche Norm. Es ist offensichtlich, dass dann, wenn die Zahl derer, die Sozialleistungen beziehen ohne dazu berechtigt zu sein, eine kritische Menge erreicht, der Sozialstaat in seinem Bestand nicht nur gefährdet ist, sondern sich selbst zerstört, denn er gewährt mehr als er einnimmt.

Die Frage, wie weit die Bereitschaft bzw. die Toleranz dafür, dass Sozialleistungen bezogen werden, die einem nicht zustehen, verbreitet ist, ist insofern eine für den Wohlfahrtsstaat lebensnotwendige Frage.

Und Heinemann untersucht diese Frage. Vier Wellen des World Value Survey, die die Jahre von 1981 bis 2004 umfassen, dienen ihm als Datengrundlage. Der Datensatz enthält gut 83.000 Befragte, genug, um zu untersuchen, wie eine Reihe von Variablen die Moral gegenüber dem Wohlfahrtsstaat beeinflussen und wie sich Letztere entwickelt.

Die Ergebnisse sind ernüchternd:

Von 1981 bis 2004 sinkt die Moral, es steigt die Bereitschaft, Sozialleistungen auch ohne Berechtigung zu beziehen.

Vor allem sinkt die Moral im umgekehrten Verhältnis zum Ausbau des Wohlfahrts- bzw. Sozialstaats: Mit jeder Steigerung der Sozialleistungen um einen Prozentpunkt sinkt der Anteil derer, die Leistungen des Sozialstaats nicht missbrauchen wollen, um 1,3%. Verteilt auf die 20 Jahre, die der Datensatz umfasst, entspricht dies einer moralischen Erosion um 26%, d.h. der Anteil derer, die Leistungen aus den Sozialkassen missbräuchlich beziehen oder beziehen würden, ist um 26% seit 1981 gestiegen.

Die Bereitschaft zum Missbrauch steigt insbesondere bei jüngeren Menschen.
Im Ländervergleich steigt die Bereitschaft vor allem in Frankreich und in Deutschland. Eine entsprechende Entwicklung ist in angelsächsischen Ländern nicht zu beobachten.

Heinemann kommt abschließend zu der folgenden Einschätzung: „Social norms which safeguard the welfare state’s stability and limit its costs appear to be influenced by the welfare state’s history. Specifically, transfer expansion and increasing unemployment tend to be associated with a larger readiness of a country’s population to claim benefits without legal justification” (252).

Mit anderen Worten: Je mehr Rechte und Sozialleistungen Politiker verschenken, um sich zur Wiederwahl zu empfehlen, um so mehr nageln sie am Sarg des Wohlfahrtsstaates, denn mit jeder Ausweitung von Rechten und Leistungen sinkt die Moral gegenüber dem Wohlfahrtsstaat, wird es normaler, Leistungen zu missbrauchen, normaler sich nicht an Normen zu halten, die bislang Missbrauch verhindert haben. Dass diese Erosion gesellschaftlicher Normen nicht nur auf den Wohlfahrtsstaat beschränkt ist, zeigen die Vorkommnisse aus Hamburg und vor allem die nachfolgenden Versuche, sie gutzureden.

Moderne Wohlfahrtsstaaten sind offensichtlich mit einer Menge von Bürgern konfrontiert, für die Missbrauch von Sozialleistungen ebenso normal geworden ist wie der Missbrauch demokratischer Rechte wie dem Recht auf Versammlungsfreiheit. Insofern kann man Heinemanns Forschung fortschreiben und nicht nur die Selbstzerstörung des Wohlfahrtsstaates, sondern auch die Selbstzerstörung der Demokratie prognostizieren.

Heinemann, Friedrich (2008). Is the Welfare State Self-Destructive? A Study of Government Benefit Morale. Kyklos 61(2): 237-257.

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